Das PROGNOSIS Festival findet in diesem Jahr nicht länger nur im niederländischen Eindhoven, sondern am Folgewochenende in Zweitausgabe erstmals auch in London statt. Für uns NRW-Volk bleibt jedoch weiterhin das Effenaar das Ziel der Wahl – Die Location, auf die wir schon im letzten Jahr Lobgesänge anstimmen mussten.
Leider müssen wir dieses Jahr ausgerechnet in den sonst komplett erfüllten, hohen Ansprüchen an den Sound Abstriche machen. Schon bei HIPPOTRAKTOR tönt es von der Secondstage doch arg mumpfig. Die Belgier bieten Post-Prog-Metal, der ab Song drei atmosphärisch doch überraschend viel Abwechslung bietet. Zunächst wirkt es etwas befremdlich, dass Sänger Stefan de Graef im Profil zum Publikum steht und die Bühnenwand anschreit. Allerdings hat dieser etwas ungewohnte Aufbau mit seinem Percussion-Einlagen, parallel mit Drummer Lander De Nyn zu tun. Denn die ergänzenden Standtoms stehen so, dass sich die Musiker bei Spielen Sichtkontakt herstellen können. Und das führt auch zu technischen Problemen. Das Mikrofon ist damit nämlich zur Monitorbox des Bassisten ausgerichtet, was immer mal wieder zu unangenehmen Rückkopplungen führt. Glücklicherweise schert sich das Publikum nicht darum und der Funke springt. Und dann so richtig. Es wird geheadbangt, dass es fast die Haare von Sänger Stefan mit den Mähnen der ersten Zuschauenden-Reihe verknotet.
Eine kurze Stippvisite bei VITAM AETERNAM offenbar einen Gig der sich gänzlich von allen die da gewesen sind oder kommen mögen abhebt. Der Auftritt ist weniger typisches Konzert als experimentell musikalisches Begleitwerk zu Zusammenschnitten ikonischer Stummfilme. Und so steht der gesamte Menschenpulk eher ruhig und gebannt verfolgend, was sich da aufder großen Leinwand hinter den Musikern abspielt. Auch uns hält die packende Darbietung vor der Bühne, ehe wir zu IAMTHEMORNING vor die Second Stage zurückkehren.
Das Chamber Prog Duo aus St. Petersburg steht hier mit drei weiteren musikalischen Mitstreitern auf der Bühne. Sängerin Marjana Semkina verkündet sich fast selbst nicht glaubend, dass dies ihr erster Gig seit 2019 ist. Umso „nervöser aber auch glücklich“ sind sie, endlich wieder aufzutreten. Der Qualität des Dargebotenen tut die Live-Abstinenz keinen Abbruch. Die Ausgewogenheit, mit der alle Instrumente in den Kompositionen zum Tragen kommen, ist bemerkenswert. Und so schweben wir mit einer im schwarzen Cape wirbelnden Sängerin durch die ersten Songs, ehe selbige sich dringend etwas vom Herzen reden muss. Nur zwei Worte – die aber mit Wucht: „Fuck Putin“.
Ich hoffe innerlich, dass die Marjana und ihre Familie und die ihres Mitstreiters Gleb Kolyadin in der Heimat sicher sind.
Im Verlauf des eigentlich perfekten Konzerts kommt es zu allgemeiner Erheiterung, als Marjana ihre Akustikgitarre in die Hand nimmt und die ersten Töne spielt – krumm und schief. Und nein, das liegt nicht an mangelndem Talent, die Saiten sind schlich dermaßen verstimmt, dass dies sogar neben den anderen Instrumenten extrem auffällt. Das sorgt nicht nur bei uns für Erheiterung sondern auch auf der Bühne. Gitarrist Liam kommt zeitweise aus dem Grinsen nicht heraus.
Nach dem zweiten Song, bei dem das verfluchte Instrument eine Rolle spielt, stellt Marjana die Gitarre weg uns sagt verschmitzt: „I’m not touching this thing again.“
Wir begeben uns wieder zur Mainstage, auf der EINAR SOLBERG mit seinem Soloprojekt aufspielt. Der Sänger der Ausnahmeband LEPROUS ist selbst ein gesangliches Ausnahmetalent und stand noch im vergangenen Jahr hier bereits mit eben jener Band auf der Bühne. Sonst im Hemd, heute im Longsleeve – als ob auch die Kleidungswahl, die Unterscheidung zur Hauptband unterstreichen muss.
Auch wenn ich wahrlich versucht habe einen Zugang zu Einars eigenständigen musikalischen Ergüssen zu erarbeiten; geschafft habe ich es nicht. Und auch live möchte kein Funke überspringen. Die Kompositionen wirken willkürlich. Lange, tragende Passagen reihen sich aneinander ohne Spannungsbogen. Und so brechen wir doch schon ein paar Minuten eher auf, um im direkten Umfeld des Effenaar einen Happen zu essen.
Wir wollen schließlich frisch gestärkt zu unserem persönlichen Bandhighlight in diesem Jahr. Nachdem DISILLUSION mit ihrem Album „Ayam“ im November 2022 der Prog-Welt ein Meisterwerk geschenkt haben, jubelt das innere Kind über die Möglichkeit die Songs (All killer, no filler!) live zu erleben. Obwohl ich mir so sicher war, dass die Second Stage eigentlich zu klein sein müsste, stehen wir im Publikum nicht zu gedrängt. Sollte ich mich darüber freuen oder ärgern? Warum wird den Leipzigern nicht begeistert die Tür eingerannt und „Ayam“ aus den Händen gerissen?
DISILLUSION starten mit einem typischen Energie-Garanten “The Great Unknown“ vom vorletzten Album. Zu meiner Freude folgt „Am Abgrund“ und gleich „Driftwood“ hinterher. Die Band beweist hiermit, dass Sie auch mit differenzierteren, leiseren Tönen einen Saal vereinnahmen kann. Mit „Tormento“ war es das auch schon von „Ayam“ und die alte Albumriege darf wieder ran. Ich bin etwas enttäuscht. Allerdings ist eine Stunde Spielzeit auch einfach viel zu kurz.
Der Headliner des Tages heißt ZEAL & ARDOR. Und diesen Slot kann das Projekt des Schweizers Manuel Gagneux auch vollkommen ausfüllen. Von dem minimalistisch-dunklen Bühnenaufbau aus ihren Anfängen ist nicht mehr viel zu sehen. Das große Z&A-Logo prangt mit Scheinwerfern nachgezeichnet über den sechs Musikern, von denen ein jeder vor Energie regelrecht zu sprühen scheint. Und die Mischung aus – ist es Gospel? – und Black Metal funktioniert live besonders gut. Ich frage mich, was die Sklaven auf den Feldern des alten Amerikas wohl darüber denken würden. Ihre Gesänge – mit denen Sie sich und ihre Psyche stärkten und der quälenden Unterdrückung trotzten – gepaart mit wütendem, schreiendem Black Metal.
Es ist, als würden ZEAL & ARDOR im Nachgang allen Sklaven die Macht schenken, die ihnen damals verwehrt blieb. Wenngleich immer eine gewisse Verbitterung mitschwingt – in angetracht dessen, dass ein Ende von Rassismus noch in weiter Ferne zu liegen scheint. Und so öffnet Manuel Gagneux am Mikrofon zischend eine Dose Bier uns sagt fröhlich-sakastischem Unterton: „This Song is about genocide.“
Unsere PROGNOSIS-Reise endet leider schon an diesem Abend. Unsere Freunde erwartet am Sonntag noch ein illustres Stelldichein von ENMA, FIXATION, ROSALIE CUNNINGHAM, VOIVOD, LIZZARD, SOEN (mit Akustikset), O.R.K., ASTRONOID und RIVERSIDE. Die Bandauswahl – schon am Samstag reich an Überraschungen – war wie immer gelungen. Ein für uns gravierender Punkt waren jedoch die gravierenden Soundunterschiede zwischen früh und spät aufspielenden Bands. Die Qualität war mehr als nur hörbar. Je später der Abend, desto fetter und ausdifferenzierter kam der Sound aus der PA. Ob Headliner oder nicht: Fans und Bands haben es verdient, dass die bestmögliche Qualität aus den Boxen schallt. Leider eine allzu oft angewandte Hierarchisierung der Bands auf vielen Konzerten mit Supportbands oder Festivals.
Bleibt zu hoffen, dass es im nächsten Jahr hierbei fairer zugeht. Denn diese Unterschiede sind uns auf dem PROGNOSIS 2022 nicht derart aufgefallen.
Running Order am Samstag:
Main Stage
14:45-15:30 ITHACA
16:15-17:15 Vitam Aeternam
18:00-19:00 Einar Solberg
19:45-21:00 Soen
21:45-23:00 Zeal & Ardor
Second Stage
14:00-15:00 Obsidious
15:30-16:30 Hippotraktor
17:00-18:00 Iamthemorning
19:00-20:00 PG.Lost
20:45-21:45 Disilllusion