Wie entflieht man als religionsfreier Mensch und Prog-Liebhaber besonders gediegen den hiesigen Karfreitags-Zwängen? Ganz klar mit einer Musik-Kur bei unseren niederländischen Nachbarn. Nachdem das PROGNOSIS FESTIVAL wie so ziemlich jede Veranstaltung um zwei Jahre verschoben werden musste, hatte es auch jetzt keinen einfachen Stand. Aufgrund von physischen oder Corona-Erkrankungen und weil ganze Touren aufgrund der anhaltenden Pandemie ausfallen und Bands es sich nicht leisten können für nur eine Show einzufliegen, war die Planung im Vorfeld von unzähligen und teils sehr kurzfristigen Änderungen im Billing gebeutelt. Ein Alptraum für jeden Veranstalter.
Das sorgte nicht nur für Stress beim Loud Noise-Team, sondern auch für Unmut bei den nicht wenigen internationalen Besuchern, die aus anderen Ländern anreisten.

Am Ende mussten Festival und Fans ohne KLONE, RENDEZVOUS POINT, HAKEN, SERMON und MARATON auskommen. Dafür sprangen die UK Prog Metaller NOVENA, ARGUS mit Prog Rock aus den Niederlanden, und die belgische Sludge Metal Combo COBRA THE IMPALER ein. Das weinende Auge wurde außerdem mit den ausgleichenden, extralangen „setlists by request“ der Headliner KATATONIA und LEPROUS getrocknet.

Prognosis Festival 2022 / Impression


Der Ort des Geschehens, das Effenaar, liegt im Herzen Eindhovens gleich neben dem Hauptbahnhof, was eine Anreise per Zug quasi obligatorisch macht. Umgeben von Hotels, Kneipen, Imbissen und Restaurants ist die Location nicht nur optimal gelegen, sondern ist auch für sich so perfekt konzipiert, dass es deutschen Konzertbesuchern die Freudentränen in die Augen treibt. Während bei uns halbwegs musiktauglich umgebaute Farbikhallen – oftmals in unsäglichem Schlauchformat – verschämt in Industriegebieten stehen, ist das 2005 gründlich renovierte Effenaar ein hochfunktionales und doch architektonisch reizvolles Gebäude, dass sich selbstbewusst in das innerstädtische Stadtbild einfügt.

Auch das Innere überzeugt auf ganzer Länge. Von Spinden, die mal eben nach Bedarf digital gebucht werden können, über Balkone und Erhöhungen, die allen Besuchern einen optimalen Blick auf die Bühne ermöglichen, bis hin zu so simplen Dingen wie Bierbecherhaltern an Absperrgittern, Außenwänden und Geländern. Gedanken wie „Hole ich mir jetzt noch ein Bier, oder will ich lieber ohne Einschränkungen Headbangen“, stellen sich so gar nicht erst.

Wenige Tage vor Beginn des PROGNOSIS vermelden die Veranstalter „95% sold“. Und 95% bedeuteten hier nicht ein paar hundert Leute wegen Corona-Restriktionen. Nein: nachdem die niederländische Regierung Ende März alle Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie hat fallen lassen, findet das Festival tatsächlich ohne jegliche Einschränkungen statt. Keine Tests, keine Masken, keine Mindestabstände, volle Auslastung. Auch unsere Masken fristen ihr Dasein in der Tasche statt im Gesicht. Was für ein seltsames, zunächst befremdliches, dann doch befreiendes Gefühl, dem auch die anfängliche Sorge womöglich einem superspreader Event beizuwohnen, unverschämterweise nichts anhaben kann.

Prognosis Festival 2022 / Enslaved
Enslaved

Freitag 15. April

Für uns ist der Freitag Anreisetag, sodass wir den Festivalauftakt von ARGUS um 17.30 Uhr verpassen. Mit 15-minütiger Überschneidung starten THE OCEAN mit ihrem besonderen „Phanerozoic II: Mesozoic | Cenozoic“-Set. Wer die Ankündigungen im Vorfeld verpasst hat, könnte sich wundern, dass auf der Bühne nur bis fünf gezählt werden kann. Tatsächlich zaubern die Berliner heute eine reines Instrumentales Set auf die Bretter, da Sänger Loïc sich einfach mal einen achtfachen Bruch in beiden Beiden zugezogen hat und „wie ein 80-jähriger“ im Rollstuhl dahinvegetiert. Das hat ihn zwar trotz schmerzen nicht davon abgehalten noch zwei Konzerte in L.A. durchzuziehen, doch mit dem Flieger über den großen Teich war am Ende einfach eine zu große Hürde mit zwei Beinen, die ständig hochlegt werden wollen. Dass THE OCEAN auch wunderbar Instrumental funktionieren, überrascht uns aber doch. Die spürbare Spielfreude der Band und ausgehungerte Fans, lassen hier atmosphärisch (fast) nichts vermissen. Während des Songs „Permian: The Great Dying“ schaltet die Band ihren verletzten Sänger per Smartphone dazu, um ihm die Stimmung nicht vorzuenthalten. Und noch ein Highlight erwartet uns, als Keyboarder Peter Voigtmann seinen angestammten Platz verlässt und den von Schlagzeuger Paul Seidel einnimmt. Dieser hingegen steht nun vor einem Mikrofon in zweiter Reihe zwischen Drumkit und Keyboards und übernimmt den Part des Sängers. Und das absolut gekonnt. Der angestammte Platz von Sänger Loïc bleibt unangetastet. THE OCEAN zeigen die Lücke und liefern doch ein überraschend vollwertiges Set ab.

Auf der Mainstage folgen nach der Umbaupause ENSLAVED. Sänger und Bassis Grutle Kjellson erzählt gleich zu beginn, dass dies das erste Konzert außerhalb ihrer Heimat Norwegen seit 2018/19 sei. Ähnliche O-Töne kommen von fast jeder Band, die entweder seit zwei Jahren gar keinen Gig gespielt haben, oder nur sporadisch unter restriktiven Bedingungen aufgetreten sind. Dieser Hintergrund lässt die Zusammenkunft von Bands und Fans auf dem PROGNOSIS wie eine Wiedergeburt wirken.

Katatonia

Das “Hearth Of The Norse Rhymes”-Set besteht aus einem Song-Potpourri verschiedenster Alben. Leider startet „The Crossing“ mit einem im Vergleich zu THE OCEAN sehr dürftigem, vermatschten Sound, der im Laufe des Gigs nur geringfügig besser wird. Da die baulichen Bedingungen im Effenaar eigentlich sehr dankbar für Toningenieur:innen ist, hatte der Mischer wohl einfach einen schlechten Tag.

Das dankbare Tages-Finale fällt schließlich KATATONIA zu, deren letztes Konzert ebenfalls schon ein halbes Jahr her ist. Entsprechend frisch und ohne lange Tour in den Knochen steht die Band mit ihrem extralangen „by request“-Set auf der Bühne. Und mit extralang sind inklusive Zugabe sage und schreibe 23 Songs gemeint, die die fünf Schweden locker und perfekt aus der Hüfte performen. Dank Fan-Voting erwartet uns eine perfekte Mischung aus Klassikern, neuem Material und Hits aus acht Alben. Angefangen bei „Lethean“ über „Teargas“ und „Day and Then the Shade“, bis hin zum rausschmeißer „Untrodden“.

Prognosis Festival 2022 / Katatonia
Katatonia

Samstag, 16. April

Den Samstags-Auftakt macht ROSS JENNINGS. Der Sänger von HAKEN hätte eigentlich mit seinen Bandkumpanen als Headliner auftreten sollen. Heute steht er als Singer-Songwriter mit seinem Soloprojekt als Tages-Opener auf der kleinen Bühne. Ein Akustik-Set auf einem Prog-Metal-Festival und das vor gerammelt vollem Saal? Geht!

Der Wechsel zur Mainstage bringt uns zu den Norwegern von MAGIC PIE. Wer die Band trotz rund 20-jähriger Historie nicht kennt, könnte beim erraten der Herkunft der Prog Rocker mit Heavy Metal einschlag gut und gerne daneben liegen. So episch und eigentlich typisch amerikanisch, wie das Quintett tönt. Der Sound ist top, völlig egal ob wir unten vor der Bühne oder auf den Balkonen stehen. Der gleichen Überzeugung scheint auch der Mischer zu sein, der zwischendurch ganz entspannt seinen WhatsApp-Verlauf checkt.

Prognosis Festival 2022 / Magic Pie
Magic Pie

Im vergleich zu den Genrekollgen THE OCEAN sind LONG DISTANCE CALLING ganz natürlich rein instrumental unterwegs. Und die Münsteraner dürften (ähnlich wie wir) eine besonders große Live-Gig-Schmacht haben. Die letzte Show war im September 2019; entsprechend ausgehungert, dankbar und enthusiastisch stehen die Jungs auf der Bühne. Eine Stimmung die sich auch auf alle Zuschauer überträgt. Gitarrist David Jordan verbeugt sich gar zwischendurch zu schwungvoll, dass dieser beim aufrichten fast schon hinten überfällt. Den grandiosen, atmosphärischen Gig krönen die Jungs mit dem Cliffhanger, dass nächsten Freitag, am 22. April 2022 eine Überraschung kundgetan wird. Wir zählen dann mal die Tage.

CELLAR DARLING spielen indes in der kleinen Halle, die bis hinten dicht gefüllt ist. Mal wieder auf der Bühne zu stehen „fühlt sich gut an“, sagt Fronterin Anna Murphy, obwohl gerade „die ganze Welt abgefuckt“ sei. We feel you Anna. Die Sängerin, die auf beeindruckende Weise zwischen Drehleier, Keyboard und Querflöte wechselt und wie gewohnt jeden Ton von tief bis hoch trifft, wirkt aufgrund der langen Zwangsbühnenabstinenz sympathisch Nervös und löst aus Versehen zwei kleinere technische Problemchen aus, die sie verschmitzt als „totally my fault … again“ kommentiert. Während ihre Bandkollegen die „üblichen Plätze“ eines Gitarristen, Bassisten oder Schlagzeugers einnehmen, ist die Sängerin auffällig weit links am Bühnenrand platziert. Noch ein Detail, welches ihre bescheidene Art zusätzlich unterstreicht.

Prognosis Festival 2022 / Cellar Darling
Cellar Darling

Die finnisch-englischen WHEEL läuten schließlich auf der Second Stage den Endspurt des PROGNOSIS ein. Nach ausgiebigem und erfolgreichem Soundcheck, bei dem Sänger James Lascelles dem Tontechniker ein händisches Dankeschön-Herzchen zeigt, begibt sich die Band von der Bühne, was die schon vollständig eingetrudelten Fans mit Vorfreude-Applaus quittieren. Auch die Prog Metaller haben magere 11 Shows in den letzten drei Jahren gespielt und stehen nach wenigen Minuten schließlich startbereit und voller Hunger auf der Bühne. Aber auch um „Wut abzuarbeiten“ wie James zu beginn sagt.

Ja, die Pandemie und vor allem der Krieg in der Ukraine schweben merklich über dem Festival. Das äußert sich nicht nur in den Kommentaren der Bands, sondern auch in kleinen Botschaften und Statements, wie einer blau-gelben Bühnenbeleuchtung zwischen den Gigs, oder dem Techniker, der einen FCK PTN Pullover trägt.
Am stärksten persönlich betroffen dürfte jedoch Einar Solberg – Sänger und Keyboarder des Headliners LEPROUS – sein, bzw. seine Frau Elena und ihre ukrainische Familie. Diese musste alles in Odessa zurücklassen, um sich in Sicherheit zu bringen. Nach mehreren Stunden schlafloser Autofahrten, machte sich Einar mittendrin auf, um auf dem PROGNOSIS und einen Tag später mit Devin Townsend in London zu spielen – nur um sich dann wieder auf den Weg zu machen um Elenas Familie sicher nach Norwegen zu bringen. Seine Frau verfolgt das Konzert vom Bühnenrand raus – und der Song „Moon“ wird zu einer durch und durch melancholischen Erfahrung.

Prognosis Festival 2022 / Leprous
Leprous

On Top machen Beinbrüche neben THE OCEAN auch bei LEPROUS nicht halt. Zum Glück kann Gitarrist Tor Oddmund Suhrke mit Schiene auf der Bühne stehen – und humpeln, was bei den ekstatischen Parts, in denen die gesamte Truppe zu einem einzigen Knäuel gebündelter Energie wird, doch recht amüsant aussieht. Zigfache Kudos, dass die Band unter all diesen Umständen auftritt – und dann auch noch ein Brett von einer Show abliefert. Das Set, welches im Vorfeld von den Fans zusammengevotet werden konnte, beinhaltet besonders viele lange Songs (O-Ton Einar: „Warum sind Prog-Fans nur so vorhersehbar“) und eine wilde Mischung aus der Band-Diskografie, die ganze zwei Stunden füllt. Nur der sehr guten Klimatisierung ist es wohl zu verdanken, dass die Zuschauer (und die Band) nicht völlig verschwitzt in die kühle Nacht tapern, als das PROGNOSIS mehr als Würdig endet.

Nach einer letzten Nacht im Hotel und der morgendlichen Freude zu sehen, dass das Festival im kommenden Jahr sogar drei Tage zählen wird (laut Aussage des Veranstalters mit „Special Show“), treten wir nach der mehr als dringend nötigen Live-Prog-Seelenpflege die Heimreise an.

Prognosis Festival 2022 / Leprous
Leprous